DIE SCHILDKRÖTE UND DER HASE
Und es trug sich zu, dass im Wald eine große Hungersnot herrschte, und eine Schildkröte es nur noch mit Mühe schaffte, ihren Panzer mit sich herumzutragen. Seit vielen Tagen hatte sie nichts mehr gegessen; alle Pflanzen hatten trockene Blättchen und die Insekten, wer weiß wohin sie verschwunden waren, und die Erde sah aus wie zerborstene Steine.
Im Tal sah die Schildkröte zwei Füchse miteinander sprechen, und sie näherte sich ihnen mit Trippelschrittchen, wie die einer Ameise, weil das Gewicht ihres schweren Panzers ihre Beine zu Boden drückte, dabei versteckte sie sich und beugte ihr kleines Köpfchen, und sie hörte Folgendes:
Weit, weit entfernt, dort unten, zwischen den Bergen, in einem anderen Tal, da gibt es ganz viele Karotten, lange und kurze. Schade, dass ich kein Kaninchen bin! Was soll ich mit diesen Karotten anfangen? Ein Fuchs will Fleisch! –
Wie schön wäre es, wenn die Karotten aus Fleisch wären … aus Hühnerfleisch oder, eben aus Kaninchenfleisch. Verdammt, dass die Natur die Karotten aus Karotten macht, und nicht aus Fleisch -, antwortete der andere Fuchs.
Es gibt so viele Karotten dort, ich schwöre es! Ich schwöre es dir. Ekelhaft dieses Gemüse. Ich trippelte an einem Karottenfeld entlang, ich wusste nicht, dass es Karotten waren, und dann sah ich ein Mäuschen aus seiner Höhle kommen, das eine Karotte im Mund hatte, und ich begriff, dass dies ein Karottenfeld war, und … es sah mich und versteckte sich, aber ich packte es und drückte es auf die Erde und habe es so hergerichtet wie einen gekreuzigten Menschen, und es weinte und wollte nicht, dass ich es aufaß, und es bot mir die Karotte an und bat mich, es zu verschonen, und ich antwortete, dass ein Fuchs nur Fleisch isst und keine Karotten, und ich sagte flink, dass ich seine Karotte gegessen hätte, wenn sie aus Fleisch gewesen wäre, aber nicht nur seine Karotte.
Wie sind diese Mäuschen dumm: Damit du ihr Leben schonen sollst, bieten sie dir in einem Karottenfeld eine Karotte an, die aus Karotte gemacht ist. –
Was hast du gemacht? Hast du es aufgegessen, das Mäuschen? –
Klar habe ich es aufgegessen, das Mäuschen, und ich habe seine Karotte dort auf der Erde liegen gelassen, inmitten vieler Karotten. –
Und dann entfernte sich die Schildkröte ganz, ganz langsam.
Sie drehte sich immer wieder um und sah einen Hasen, der beim Laufen klapperte, so standen ihm die Knochen hervor, und wenn die Haut sie nicht zusammengehalten hätte, wären sie auf die Erde gefallen, die Knochen.
Heh! Komm her, komm her, jetzt weiß ich, wo es ganz viele Karotten gibt. –
Karotten? –
Ein ganzes Feld! Dort unten, weit, weit weg, in einem Tal zwischen den Bergen dort. Siehst du sie, jene Berge, ganz in der Ferne? Dort unten gibt es ein Tal voller Karotten. Ich sage es dir, weil du ein Hase bist; die Hasen sind schnell. Aber ich bitte dich, bringe mir auch zwei mit, so klein und langsam wie ich bin, könnte ich nie dort hinunter gelangen. Aber … aber hüte dich vor den Füchsen, die dort hingehen, um Mäuse zu essen. –
Oh Gott wie schön! Dich schickt ein Engel, seit drei Tagen habe ich kein Blatt mehr angerührt. Oh Gott, oh Gott, es gibt nicht mehr den klitzekleinsten Bissen auf der Welt. Nicht einen Bissen. Die Hungersnot! Los, los, sag mir, wo sind diese Karotten? Mach schnell, sonst fallen mir meine Knochen zur Erde wie ein Haufen Stäbchen aus trockenem Holz. –
Klar sage ich es dir sofort! Ich fühle eine solche Schwäche; ich schaffe es nicht mehr, den Panzer hochzuheben, verdammt, ist der schwer. Aber auch ich muss einige Karotten zwischen die Zähne bekommen. Also hör gut zu: Dort unten, dort unten, ganz, ganz weit weg, zwischen jenen Bergen und vor dem Meer, gibt es ein schönes großes Tal, und dort gibt es ein großes Karottenfeld. –
Und die Schildkröte hatte noch nicht aufgehört zu sprechen, als der Hase mit den Pfoten schon auf die Erde trommelte und verschwand.
Es verging ein Tag und die Schildkröte sah den Hasen und fragte ihn, ob er ihr einige Karotten mitgebracht habe, und dieser antwortete: – Ich hatte solchen Hunger und dachte an nichts anderes, als daran, Karotten zu essen und Karotten zu essen. Weißt du, ich war wirklich zum Skelett geworden; und entschuldige, Freundin Schildkröte, aber ich werde dir welche bringen, zweifle nicht daran, und außerdem, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Zweifle nicht daran. –
Und es verging ein weiterer Tag und die Schildkröte sah den Hasen wieder und fragte ihn wieder, ob er ihr zufällig einige Karotten mitgebracht habe, und dieser antwortete wieder: – Ich hatte solchen Hunger und dachte an nichts anderes als daran, wieder Karotten zu essen und wieder Karotten zu essen: Weißt du, ich war wirklich zum Skelett geworden; und entschuldige nochmals, Freundin Schildkröte, aber ich werde dir welche bringen, zweifle nicht daran, und außerdem, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Zweifle nicht daran. –
Und jedes Mal, wenn die Schildkröte den Hasen nach Karotten fragte, antwortete dieser: – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Entschuldige nochmals, Freundin Schildkröte. Zweifle nicht wieder daran! –
Und es geschah, dass die Schildkröte es nicht mehr aushielt, und dass sie vor zu großer Schwäche zu sterben drohte, und jedes Mal, wenn sie hin und wieder den Hasen traf, antwortete der ihr immer: – Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! –
Und so entschloss sie sich, loszulaufen.
Ganz langsam, ganz langsam, schleppte sich die Schildkröte dort hinunter, ganz weit fort, noch weiter weg als die Berge, und schließlich, nach zwei Tagen und drei Nächten, setzte sie ihren Fuß in das Karottenfeld und begann Karotte für Karotte herauszuziehen und daran zu knabbern (sie glaubte zu träumen) und plötzlich sah sie den Hasen!
Hase! Widerlicher Hase! Die Füchse sind gutmütiger als du. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und es fehlte wenig und ich wäre gestorben. Glaubst du der Magen würde sich von Gerede füllen? Und du könntest warten so lange du willst? Was gäbe ich darum, zwei oder drei Füchse hier zu haben; ich würde den Kopf in meinen Panzer zurückziehen und mich daran erheitern, wie dir das Fell abgezogen und du aufgegessen würdest. –
Aber sag mir, du dumme und beschränkte Schildkröte, weißt du nicht, dass immer wieder aufgeschoben eben aufgehoben bedeutet? Und dass dem, der sich auf andere verlässt, der Tod sicher ist? Und ich, bei all der Hungersnot die hier herrscht, hätte dir Karotten bringen sollen? Blicke zum Himmel auf und danke Gott, dass du dich rechtzeitig besonnen hast; heute wäre dein Panzer schon voller Würmer. Hör zu und vergiss nicht: Traue nie einem Hasen, wenn es sich um Karotten handelt!